Kindheiten weltweit

Unsere Sichtweise auf Kinder und Kindheit hängt von vielen Faktoren ab, die sich im Laufe der Geschichte und in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten verändern. Im kindheitswissenschaftlichen Diskurs wird seit den 1990ern von Kindheit als Konstrukt gesprochen. Diese Perspektive begünstigt einen Paradigmenwechsel – weg von einer Defizitorientierung, hin zum Blick auf die Stärken und Fähigkeiten der Kinder. In Lateinamerika wird dieser Ansatz seit den 1970ern mit dem Begriff protagonismo infantil (Protagonismus der Kinder) umschrieben.

Was ist Kindheit?

Erinnern Sie sich an Ihre eigene Kindheit? Welche Momente prägten sie, welche Gefühle und Einstellungen verbinden Sie mit ihr? Mit welchen Begriffen würden Sie Ihre Kindheit beschreiben?

Ist es nicht schwierig, eine Lebensspanne, deren ausschließliches Kriterium das Lebensalter ist, in wenigen Begriffen zusammenzufassen? Und wie sieht es aus, wenn andere versuchen würden, das gleiche zu machen? Vielleicht eine gute Freundin oder ein guter Freund. Würde sie oder er die eigene Kindheit auf ähnliche Weise beschreiben? Und was ist mit jemandem auf einem anderen Kontinent? Gäbe es Überschneidungen?

Kinder lachen, weinen, spielen, lernen, arbeiten, entdecken, konsumieren, werden behütet, übernehmen Verantwortung, genießen, werden krank, lieben, erfahren Zuwendung, haben Angst, werden entmündigt, wachsen, leben in Armut, werden erzogen, helfen anderen, passen sich an, genießen Freizeit, werden unterdrückt, flüchten, verändern, leben im Überfluss, erfahren Gewalt, streiten sich, sind kompetent, prostituieren sich, können töten, haben Sorgen, sprechen, freuen sich, sind HIV-positiv, geraten unter Leistungsdruck, drängeln, sterben, sind kreativ, haben eine Behinderung, werden eingeschränkt, schreien ... überall auf der Welt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Es gibt nicht die Kindheit. Es gibt unzählig viele Kindheiten, die nebeneinander existieren, u.a. abhängig von kulturellen, familiären, religiösen, biografischen und situativen Kontexten. Was „Kindheit“ für ein Kind oder einen Erwachsenen bedeutet, hängt demnach von vielen verschiedenen Faktoren ab. Letztlich ist auch das Menschenbild desjenigen, der Kindheit definiert, ein wichtiger Faktor. Vielleicht könnte man sagen, es gibt so viele Kindheiten, wie es Kinder gibt: Jedes Kind kann seine eigene Geschichte erzählen, jede*r Erwachsene kann eine Geschichte über ihre*seine Kindheit erzählen.

Nach Definition der UN-Kinderrechtskonvention ist jeder Mensch unter 18 Jahren ein Kind. Demnach gibt es über 2 Milliarden Kinder weltweit. Doch schon hier gibt es viele differierende Vorstellungen, ab wann das „Kind sein“ beginnt (ob schon vor oder erst bei der Geburt) und welche Altersspanne die Kindheit umfasst. Viele „Minderjährige“ verstehen sich gar nicht mehr als Kinder, sondern als Jugendliche.

Unsere Sichtweise auf Kindheit, unsere Einstellungen zu kindlichen Bedürfnissen sowie unser Umgang mit Kindern werden von vielen gesellschaftlich bedingten Bildern von Kindheit beeinflusst.

Sich verändernde Bilder von Kindheit

Wie sich diese Bilder im Laufe der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter kulturell wandelten, fasste schon 1960 der Historiker Philippe Ariès in seinem Buch L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime zusammen. In der alteuropäischen Gesellschaft (ähnlich wie heute in anderen Teilen der Welt) wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen. Sie nahmen nahezu ungefiltert an vielen Tätigkeiten der Erwachsenen teil. Es wurde nicht als notwendig erachtet, den Kindern einen eigenen Erziehungs- und Schonraum zukommen zu lassen. Die Individualität des Kindes spielte in dieser vorbürgerlichen Ständegesellschaft kaum eine Rolle. Erst mit dem Aufkommen des Bürgertums Anfang des 17. Jahrhunderts wurden Kinder nun mehr als eigenständige Persönlichkeiten am Anfang einer eigenen Biografie wahrgenommen.

Im Zeitalter der Aufklärung wurde das Kind gerne als ‚Tabula Rasa’ gesehen, es kommt als ‚ungeschriebene Tafel’ auf die Welt und wird je nach gesellschaftlicher Konstituierung, Erziehung und Unterricht unterschiedlich beschrieben. In dieser Zeit entstanden die ersten Schulen und Kindergärten sowie eine pädagogische ‚Kolonialisierung’ von Kindheit. Kinder wurden vom Erwachsenenleben zunehmend ferngehalten und einem eigenen, vorbestimmten Schonraum zugewiesen. Mit der bürgerlichen Vorstellung von Kindheit ging die Auffassung einher, Kindheit als vorgesellschaftlichen Naturzustand zu betrachten. Hieraus wurde geschlussfolgert, dass Kinder zivilisiert, diszipliniert und kultiviert werden müssten. Dieses Bild vom Kind als ‚Defizit- und Mangelwesen’ bestimmt in vielen westlichen Kulturen noch heute den Umgang mit Kindern in der Erziehung und Pädagogik, auch wenn der einflussreiche Philosoph und Reformpädagoge Jean-Jacques Rousseau ab 1762 die Eigenwertigkeit und Vollkommenheit der kindlichen Lebensphase betonte und sich gegen das Führen und für das „Wachsen lassen“ von Kindern (vornehmlich jedoch Jungen) aussprach.

Auch in anderen Teilen der Welt finden sich viele unterschiedliche Auslegungen von Kindheit, die von dem Aufwachsen in Kriegsgebieten bis hin zum Aufwachsen in fundamentalistischen Strukturen geprägt werden. Kinder sind nicht nur die Zukunft, sie sind auch die Gegenwart, haben eine eigene Vergangenheit und spiegeln oftmals die Gesellschaft wieder, in der sie leben.

Kindheit als Konstrukt

Seit einigen Jahrzehnten wandelt sich unsere gesellschaftliche Sicht auf Kindheit. In der heutigen Kindheitsforschung werden Kindheit und kindliche Entwicklung als sozialeKonstruktion angesehen. Denn sie sind keine Realität, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, sondern werden von unterschiedlichen Positionen und Kontexten aus unterschiedlich interpretiert und verhandelt. Jede Wahrheit über Kindheiten lässt sich aus anderen Perspektiven auch wieder dekonstruieren, d.h. ergänzen, modifizieren und kritisieren.

Eine neue Konstruktion von Kindheit stellt zunehmend den Eigenwillen, die Eigenbestimmung und Kompetenzen der Kinder in den Mittelpunkt. Nicht mehr nur erwachsene „Kinderexpert*innen“ werden bei Untersuchungen befragt, sondern Kinder werden selbst in die Forschung mit einbezogen. Kinder werden zunehmend als Bürger*innen, mit eigenen, von Eltern und Institutionen unabhängigen Rechten, betrachtet. Kinder werden nicht mehr als Erziehungs- und Forschungsobjekte betrachtet, sondern als Akteur*innen, die ihre Lebensbedingungen und Interaktionen mit ihrer Umwelt entscheidend mit beeinflussen und durchaus in der Lage sind, ihre Bedürfnisse selbständig zu formulieren. Zu diesem Paradigmenwechsel beigetragen haben die seit den 1970ern entstehenden Kinderbewegungen (von Kindern) und die ebenfalls in den 1970ern entstehenden Kinderrechtsbewegungen (von Erwachsenen). Neben diesen emanzipatorischen Entwicklungen gibt es auch reaktionäre Sichtweisen auf Kindheit, die z. B. bei der Diskussion um jugendliche Delinquenz beobachtet werden können. Diese Kinder und Jugendliche sollen in sogenannten „boot camps“ und Jugendknästen Disziplin und Gehorsam lernen, um in die Gesellschaft reintegriert zu werden. Um ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen geht es dabei selten.

Beteiligungsrechte werden (noch) selten umgesetzt

1989 wurde von der UN nach zehnjähriger Vorbereitungszeit eine Kinderrechtskonvention verabschiedet, die mit Ausnahme der USA von allen Ländern der Welt unterschrieben wurde – mehr Länder als bei jeder anderen UN-Konvention. Für die Kinderrechte ist das ein großer Fortschritt, denn in dieser Konvention sind erstmalig neben Schutz- und Versorgungsrechten auch Beteiligungsrechte verankert. Das Kind steht außerdem als eigenständige Persönlichkeit mit eigener Meinung und eigenen Rechten da. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt demgegenüber beispielsweise in Deutschland ein Kind – rechtlich gesehen – als uneingeschränkter Besitz seines Vaters. Dennoch gibt es bis heute große Mängel in der Umsetzung und Ausrichtung der Kinderrechtskonvention.

Die Kinderrechtskonvention wird oft noch in einem protektionistischen Sinn verstanden. Beteiligungsrechte werden vernachlässigt. Wird die Konvention ernst genommen, sind neue Konzeptionen von Kinderschutz erforderlich, die auf umfassender Mitwirkung der Kinder und Jugendlichen aufbauen. Vielfach ist die Kinderrechtskonvention noch eher Anlass von Sonntagsreden, statt sie konsequent umzusetzen.

Auch wenn es in vielen Ländern positive Ansätze in der Gesetzgebung gibt, bleiben die meisten Kinderrechte im Leben der Kinder noch unerfüllt. Armut und unwürdige Lebensbedingungen sind noch weit verbreitet, insbesondere Kinder in sozial benachteiligten Lebenslagen, Kinder indigener Gruppen und Migrant*innen- bzw. Flüchtlingskinder sind weiterhin Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung ausgesetzt, ihre Rechte auf Bildung und Gesundheit werden vernachlässigt.  

Arbeitende Kinder werden nicht nur vielfach ausgebeutet, sondern auch diskriminiert und unterdrückt allein aufgrund der Tatsache, dass sie arbeiten. Gerade beim Thema Kindheit und Arbeit stellt sich die heutige Kindheitsforschung die Frage, wie Kinder ihre Arbeit erleben, wie arbeitende Kinder mit ihrem Lebensumfeld in Kontakt treten, dieses gestalten und wie sie sich aktiv gegen unwürdige und ausbeuterische Arbeitsbedingungen zur Wehr setzen.

Von der Objekt- zur Subjektstellung

ProNATs setzt an dieser Stelle an und fragt: Wie können wir die Welt (kind-)gerechter gestalten? Kommt es wirklich den Kindern zu Gute, für die Abschaffung von Kinderarbeit einzutreten oder müsste man fragen, wie sie würdiger gestaltet werden könnte? Hat die Arbeit eventuell positive Aspekte und wie könnten diese gefördert werden? Was ist überhaupt „Kinderarbeit“? Und wer sind eigentlich die arbeitenden Kinder?

ProNATs vertritt ein Menschenbild, das sich weg von der Defizitorientierung hin zum Blick auf die Stärken und Fähigkeiten der Kinder richtet. Das Kind erhält dabei die Stellung eines sozialen Subjektes, im Gegensatz zur Objektstellung, die von vielen karitativen Projekten propagiert wird. Objektorientierte Interventionen gehen davon aus, dass ‚unreife’ Kinder pädagogische Anweisung brauchen, um sich in die Gesellschaft zu (re-)integrieren. Subjektorientierte Interventionen schreiben dagegen den Kindern Handlungskompetenz zu, ihre Interessen selbst zu vertreten (Partizipation). Zusammen treiben Erwachsene wie Kinder eine Bewusstmachung und Solidarisierung der Gesellschaft voran, um die Kinder letztlich zur Selbsthilfe zu befähigen. In lateinamerikanischen Ländern wird dieser Ansatz seit Ende der 1970er Jahre mit dem Begriff protagonismo infantil (Protagonismus der Kinder) umschrieben. In der anglophonen Diskussion fand sie im Empowerment ([Selbst-]Ermächtigung) ihre Entsprechung. Nicht aus dem Augenwinkel geraten darf dabei, dass sowohl Ressourcen als auch Rechte für die Partizipation der Kinder eine wesentliche Rolle spielen. ProNATs verurteilt eine ungerechte weltweite Ressourcenverteilung, setzt sich für die Rechte der Kinder ein (die geschriebenen wie die ungeschriebenen!) und solidarisiert sich mit ihnen.

Aktualisiert: 14.12.2020